Dorothee Oberlinger
ARTIST IN RESIDENCE 2025

Den Blick nach Italien gerichtet, widmet sich das Festival Alte Musik Knechtsteden 2025 einer Stadt, die besonderen Einfluss auf die Musikgeschichte hatte. „Napoli!“ lautet das Motto des diesjährigen Programms, das zahlreiche offensichtliche und versteckte Bezüge zu Neapel aufweist – dieser vitalen, abergläubischen, facettenreichen Metropole im Schatten des Vesuvs. Das Eröffnungskonzert zeigt, wie weit der Einfluss des barocken italienischen Musiktheaters über die Stadtgrenzen hinausreichte. Die Faszination, die die Entdeckung der antiken Stätten Pompeji und Herculaneum auslöste, wird während des Festivals genauso erlebbar wie der Charme der für Neapel typischen Mandoline. Anlässlich des 300. Jahrestags der Geburt Alessandro Scarlattis ist ein ganzes Konzert seinem musikalischen Kosmos gewidmet. Als Artist in Residence kehrt mit Blockflötistin und Ensembleleiterin Dorothee Oberlinger eine der renommiertesten Musikerinnen der Gegenwart nach Knechtsteden zurück.

Dorothee Oberlinger, Sie sind in diesem Jahr bereits zum zweiten Mal Artist in Residence in Knechtsteden. Wie blicken Sie auf Ihr Debüt im vergangenen Jahr zurück?

Es war wunderbar, so intensiv in Knechtsteden dabei zu sein und das Publikum, den Förderverein und den Ort näher kennenzulernen. Wir haben das Oratorium Il trionfo del Tempo e del Disinganno von Georg Friedrich Händel in der Klosterbasilika aufgeführt. Außerdem gab es ein Konzert mit Bratschist Nils Mönkemeyer im Kreismuseum Zons und einen Abend mit der Akademie für Alte Musik Berlin auf Schloss Arff. Das waren sehr unterschiedliche Formate, aber viele Menschen aus dem Publikum kamen zu mehreren Konzerten – das hat für eine sehr familiäre und schöne Festivalatmosphäre gesorgt.

Das diesjährige Festival wird mit einer echten Entdeckung eröffnet: Sie leiten die neuzeitliche Erstaufführung von La Colpa originale, einem Oratorium von Francesco Bartolomeo Conti, das seit über 280 Jahren nicht mehr gespielt wurde. Ein langer Dornröschenschlaf – wo hat das Oratorium geschlummert?

Das Manuskript befindet sich in Wien, weil Conti dort Hofkomponist war. Zu seiner Zeit war er ein Star, der auch nach London und in andere europäische Metropolen gereist ist – nicht nur als Komponist, sondern auch als Virtuose auf der Theorbe, also als Lautenspieler. Eine Abschrift seines Oratoriums La Colpa originale liegt zudem in der Bibliothek von Meiningen. Sie stammt von Anton Ulrich, Herzog von Sachsen-Meiningen, der viel Zeit in Wien verbrachte und eine Art „Spiegelbibliothek“ mit Werken aus Wien in Meiningen anlegte. Die Wiederaufführung dieses Oratoriums ist eine Kooperation mit dem Festival Güldener Herbst in Thüringen, und wir werden La Colpa originale nach Knechtsteden noch einmal in Meiningen präsentieren. Neue künstlerische Leiterin ist dort übrigens die Mezzosopranistin Alice Lackner, die die Partie des Cherubino singen wird.

Vom Manuskript bis zur Aufführung ist es ein langer Weg. Die Noten müssen durchgesehen und abgeglichen, digital gesetzt und für den Druck vorbereitet werden. Dann erst beginnt die Probenarbeit mit Solistinnen und Solisten sowie dem Ensemble 1700. Muss man in so eine Erstaufführung besonders viel Liebe stecken?

Ja, absolut. Zunächst ist es eine umfangreiche wissenschaftliche Arbeit. Uns liegt jetzt eine moderne Partitur vor, die auf Grundlage verschiedener Wiener Abschriften erstellt wurde. Diese wissenschaftliche Arbeit war enorm wichtig. Gleichzeitig geht es darum, das Werk nun zum Leben zu erwecken. Wir haben eine erstklassige Besetzung mit ganz wunderbaren Sängerinnen und Sängern der Barockszene: Luigi De Donato als Lucifero, David Tricou als Dio, Tim Morgan als Adamo, Alice Lackner als Cherubino und Jin Jiayu als Eva. Außerdem wird Nils Niemann, der in Knechtsteden im vergangenen Jahr schon die Gestaltung von Händels Oratorium übernommen hat, auch in diesem Jahr eine halbszenische Gestaltung umsetzen.

Eva, Cherubino, Lucifero – die Namen der handelnden Figuren geben ja schon Hinweise, welche Themen verhandelt werden …

Es geht um die Erbsünde, also den Sündenfall, die Vertreibung aus dem Paradies. Am Ende des Librettos wird jedoch ein versöhnlicher Ausblick gegeben: „Ihr Menschen habt einen großen Fehler begangen, doch ihr könnt versuchen, ihn im Laufe der Menschheitsgeschichte wiedergutzumachen.“

Ihr zweites Konzert im Festivalprogramm widmet sich Alessandro Scarlatti, dessen 300. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird. Sie dirigieren das Ensemble 1700 und treten zugleich als Solistin an der Seite von Sopranist Bruno de Sá auf. Was macht Scarlatti für Sie so besonders?

Wir haben bereits 2023 – also noch vor dem Jubiläumsjahr – mit dem Ensemble 1700 und Bruno de Sá eine Einspielung vorgelegt, weil mir wichtig war zu zeigen, dass Alessandro Scarlatti eine Art „barocker Influencer“ war. Ich höre seinen Stil sogar in den Werken von Georg Philipp Telemann und sehr oft auch bei Händel. Scarlatti war eine zentrale Figur für nachfolgende Komponistengenerationen. Er beherrschte den alten Stil meisterhaft, konnte großartige Fugen schreiben, aber er ließ auch volkstümliche Einflüsse aus Süditalien in seine Musik einfließen – beispielsweise aus Neapel. Er war aber auch fähig, sehr melodisch zu komponieren. Damit vereinte er alle musikalischen Elemente, die Neapel im 18. Jahrhundert prägten, bevor sich später der galante Stil durchsetzte. Davon profitierten auch deutsche Komponisten wie Johann Joachim Quantz und Carl Heinrich Graun, die eine Zeit lang in Neapel lebten.

Scarlattis Flötenmusik steht in engem Bezug zur Stadt Neapel. Glauben Sie, dass Scarlatti auch die neapolitanische Flötenmusik geprägt hat, oder wurde er von der dortigen Tradition inspiriert? Denn als Scarlatti 1684 in Neapel ankam, wurde das Instrument ja gerade sehr populär.

Es gibt eine riesige Sammlung originaler Flötenkonzerte – 24 an der Zahl –, aus der wir ein Konzert von Scarlatti spielen. Doch nicht alle Werke dieser Sammlung stammen von ihm; auch Komponisten wie Francesco Mancini, Robert Valentine und Francesco Barbella, die ebenfalls Opern schrieben, sind darin vertreten. Ich bezeichne diese Musik oft als den „Gesang der Parthenope“. Parthenope war eine Sirene: Als Odysseus mit seinen Matrosen in die Nähe von Neapel kam, hat er den wunderschönen, gefährlichen Sirenengesang unter anderem der Parthenope gehört. Und er hat seine Matrosen angewiesen, die Ohren mit Wachs zu verstopfen, um nicht dieser Verlockung zu verfallen. Das hat die Sirene so sehr deprimiert, dass sie sich ins Meer gestürzt hat und dann an der Küste Neapels angespült worden ist. Seitdem gilt sie als Schutzgöttin der Stadt. Ihr wunderschöner, bezaubernder Gesang lebt bis heute unter anderem in der Flötenmusik Neapels weiter und in der Flötenmusik von Alessandro Scarlatti.

Das Gespräch führte Daniel Frosch.

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